Auf Zuweisung ihres Hausarztes wird Doris (18 Jahre) für eine Schluckabklärung im Stimm- und Schluckzentrum des USZ (Abteilung Phoniatrie / Klinische Logopädie) aufgeboten. Doris berichtet, dass sie Mühe mit dem Hinunterschlucken von festen Speisen habe. Sie ernähre sich nur noch mit cremigen und flüssigen Konsistenzen. Sie habe Angst, weil sie sich vor einiger Zeit an einer Frühlingsrolle heftig verschluckt habe und beinahe erstickt sei. Sie befürchte, dass das wieder vorkommen könnte. Die Nahrungsaufnahme dauere länger, sie kaue alles sehr gründlich. Sie esse auch nicht mehr in Gesellschaft, da dies stressig sei für sie. Ihre Eltern würden sie unter Druck setzen, endlich wieder normal zu essen. Die anschliessende Schluckuntersuchung ist unauffällig. Doris schluckt sogar einen Keks. Im Anschluss wird die Diagnose «Angst vor dem Schlucken» oder «Phagophobie» gestellt.
Der Weg zur Diagnosestellung ist häufig sehr langwierig. Der Hausarzt oder die HNO-Ärztin kann keine wirkliche Ursache für die Beschwerden – z.B. ein Klossgefühl, ein vermehrtes Gefühl des Steckenbleibens von Nahrung oder auch das Gefühl einer Schluckblockade – finden. Dies kann kurzfristig zu einer Beruhigung führen, die Beschwerden bleiben weiterhin bestehen. Die WHO hat diese Schluckangst als Unterform der somatoformen Störungen (… werden nicht durch das vegetative Nervensystem vermittelt, beschränken sich auf bestimmte Teile des Körpers) mit der Nummer ICD-10 F45.8 klassifiziert. Phagophobie kann folgendermassen definiert werden: Angst vor dem Schlucken von Nahrungsmitteln, Flüssigkeiten oder Tabletten oder als «ernsthafte Schluckbeschwerden» bei unauffälligem Organbefund. Auslöser können z.B. traumatische Verschluck-Ereignisse sein, manchmal verbunden mit Angst- oder Zwangs- oder Panikstörungen. Die Phagophobie tritt altersunabhängig auf. Männer sind weniger häufig betroffen als Frauen. Als Symptome zeigen sich die Störung der Schluckinitiierung oder eine verlängerte orale Transitzeit. Bestimmte Situationen können die Symptome auslösen oder verstärken.
Doris erhielt bei uns aufgrund der Phagophobie logopädische Therapie. Es ist wichtig, die Hypothesen, Strategien und Gedankenkonstrukte der betroffenen Person anzuerkennen und die Möglichkeiten einer professionellen logopädischen Behandlung aufzuzeigen. Die Zeit zum Zuhören spielt eine grosse Rolle. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen dem oder der Therapeut:in und dem oder der Patient:in ist für den Erfolg wesentlich. Übungen aus der funktionellen Dysphagietherapie, Feedbackverfahren (Endoskopie) sowie Ermutigung des oder der Therapeut:in zu Schluckversuchen mit «schwierigen» Konsistenzen sind weitere Therapiebausteine. Die Behandlungsdauer ist unterschiedlich. Sollte sich innerhalb einer gewissen Frist die Symptomatik nicht verbessern oder gar verschlechtern, müssen ernährungstherapeutische Massnahmen und/oder eine allfällige psychotherapeutische Anbindung diskutiert werden. Denn professionelles Handeln bedeutet, seine Grenzen zu kennen.
Doris geht es in der Zwischenzeit besser. In 6 Therapiesitzungen hat sie gelernt, ihrem Körper wieder zu vertrauen. Sie isst fast alles und macht dies gerne auch in Gesellschaft.
Ursula Colotto-Vith, dipl. Logopädin, BSc, Stimm- und Schluckzentrum , Abteilung Phoniatrie und Klinische Logopädie, ORL-Klinik, USZ
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